Dienstag 26.03.2019


Lesung mit Miriam Toews

Außerhalb von Zeit und Raum

Miriam Toews
Miriam Toews, Foto: Carol Loewen
Es ist eine fremde Welt, in der sich der Heuboden von Earnest Thiessen befindet. Eine kleine Gruppe von Frauen hat sich dort zum Gespräch getroffen. Sie leben in einer der Zivilisation fernen Zone, die sich mit der unseren kaum überschneidet, sind Regeln und Kräften ausgesetzt, die im Hier und Jetzt scheinbar keinen Widerhall finden. Das will man bei der Lektüre dieses Romans jedenfalls nur allzu gern glauben, denn er spielt in einer Mennonitengemeinde. Es gibt dort keine Smartphones und kein Streaming, es gibt noch nicht einmal elektrisches Licht, die Leute glauben an Gottes Reich und an das Werk des Teufels. Dennoch zielt Miriam Toews »Die Aussprache« (Hoffmann und Campe) mitten hinein in Finsternisse, die es überall gibt, weil sie allzu menschlich sind.

International bekannt wurde die kanadische Schriftstellerin Miriam Toews mit ihrem Roman »Ein komplizierter Akt der Liebe« (2005), einer biografisch-literarischen Aufarbeitung ihrer eigenen Kindheit und Jugend in einer Mennonitengemeinde außerhalb von Winnipeg. Sie hat seitdem mehrere Romane veröffentlicht, wurde vielfach ausgezeichnet und ist heute eine der profiliertesten Autorinnen ihres Landes.

Als »fiktionale Reaktion« auf die Ereignisse in einer mennonitischen Gemeinde in Bolivien und als einen »Akt der weiblichen Phantasie« bezeichnet Toews in einer kurzen Einleitung ihren neuen Roman »Die Aussprache«. Zwischen 2005 und 2009 wurden in der Manitoba-Kolonie in Bolivien dutzende Mädchen und Frauen in ihren Schlafzimmern von sieben Männern betäubt und vergewaltigt. Nur durch einen Zufall wurden sie entlarvt. In der Gemeinde glaubte man lange, die Vergewaltigungen seien ein Werk des Teufels, der die Frauen für schmutzige Phantasien bestrafen würde. Acht Mütter, Töchter und Ehefrauen treffen sich in Miriam Toews Roman nun auf einem Heuboden, während ihre Peiniger vor Gericht stehen. Die Männer haben das Dorf verlassen, um der Gruppe der Vergewaltiger beizustehen, nur der demente Earnest Thiessen und der Lehrer August Epp sind zurückgeblieben.

48 Stunden haben die Frauen Zeit, um sich zu entscheiden, wie es weitergehen soll, wie sie sich und ihre Kinder in Zukunft vor den Männern schützen können. Nichtstun, bleiben und kämpfen oder gehen, das sind die ihre Optionen. Das Protokoll über das Treffen der Frauen führt August, der als Schullehrer kein hohes Ansehen genießt und als »unmännlicher Mann« gilt, weil er kein Bauer ist. Er kann lesen und schreiben, er hat in London gelebt und ist für seinen Glauben in die Gemeinde zurückgekehrt. Sein Protokoll erzählt am Ende nicht nur von Verletzungen, die nicht heilen und von einer existenziellen Entscheidung, deren Folgen unwägbar sind, weil sie in die Freiheit führt. August Epp erzählt auch von der zarten Liebe, die er für Ona Friesen empfindet, die unter den Kolonisten als zu gutmütig und »damit untauglich für die wahre Welt« gilt. Ona ist unverheiratet und hochschwanger, nachdem sie mehrmals vergewaltigt wurde.

Dennoch hat sie ihren Glauben an die Liebe nicht verloren, sie hat eine »ganz eigene Vision« von der Zukunft der Frauen. Und diese Vision gibt sie auch August für sein Protokoll mit auf den Weg: »Uns sind viele Dinge bewusst, instinktiv, sagt Ona leise, aber wenn man sie auf eine bestimmte erzählerische Weise präsentiert bekommt, ist das schön und macht Spaß.«

Ökumenisches Forum HafenCity, Weltcafé ElbFaire, Shanghaiallee 12, 19.00 Uhr, Eintritt frei. Anmeldung unter info(at)oefh.de





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