6 15.01.2022


Performative Lesung mit Olivia Wenzel

Was alles in ein Leben passt

Olivia Wenzel
Olivia Wenzel, Foto: Juliane Werner
Bekannt wurde Olivia zuerst Theaterautorin und Musikerin, ihre Stücke wurden an den Münchner Kammerspielen, am Hamburger Thalia Theater und am Deutschen Theater Berlin aufgeführt, sie ist als Performerin mit Kollektiven wie »vorschlag:hammer« aufgetreten und als Musikerin unter dem Namen Otis Foulie. Ein großer Erfolg wurde dann ihr 2020 erschienener Debütroman »1000 Serpentinen Angst« (S. Fischer). Es ist eine höchst kunstvolle Romancollage, in der die 1985 in Weimar geborene Autorin von einem ergreifenden Parforceritt ihrer jungen Protagonistin erzählt, einer queeren und schwarzen Frau aus dem Osten. Auf Kampnagel stellt Olivia Wenzel das Buch in einer Performativen Lesung vor.

Wo ihre nächsten Verwandten leben, weiß sie nicht so genau, und eine »richtige Familie, also im biologischen Sinne«, hat sie nicht. Jedenfalls behauptet die junge Ich-Erzählerin das von sich, und in gewisser Weise stimmt es schon auch, obwohl sie nach und nach doch eine Familie vorstellt: Mit ihrem Vater ist sie nur sporadisch in Kontakt, er lebt in Angola, ihre Mutter hat sie zum letzten Mal vor Jahren bei der Beerdigung ihres Zwillingsbruders gesehen, und ihre Großmutter ist eine alte Frau, mit der offene Gespräche nicht möglich sind. Kein Wunder, dass sie tief verunsichert ist, bald in allen möglichen Situationen nur noch Angst empfindet und den alltäglichen Rassismus, unter dem sie seit ihrer Kindheit in einer ostdeutschen Kleinstadt leidet, kaum noch erträgt. Obwohl sie gleichzeitig festellt: »Ich habe mehr Privilegien als je eine Person in meiner Familie hatte.« Es ist eine »herzergreifende« Geschichte über »Herkunft und Verlust, über Lebensfreude und Einsamkeit, über Liebe und Angst«, heißt es dazu im Klappentext des Romans. Das ist richtig und klingt, wenn man diesen Roman gelesen hat, doch irgendwie falsch. Olivia Wenzel lässt ihre Protagonistin in drei Episoden erzählen, von denen zwei fast ausschließlich aus langen fingierten Gesprächen bestehen, die in Berlin, in New York, in Vietnam und Marokko geführt werden. Sie changieren meisterhaft zwischen Monolog und Dialog und zoomen durch die saloppe mündliche Sprache sehr direkt an die Geschehnisse heran. Wie sehr sie sich in New York »öffentlich gemocht« und in Berlin rassistisch angemacht fühlt, wird dadurch für die Lesenden in seiner ganzen emotionalen Dimension nachvollziehbar. Im Mittelteil hat Olivia Wenzel diese Dramaturgie des Textgefüges dann klug zurückgenommen und erzählt in Bildern vor allem aus der Kindheit der Protagonistin. Am Ende und nach einem weiteren schnellen Textteil über die »Fluchtpunkte« der Erzählerin stellt man fast ein wenig verwundert fest, dass alles, was da gesagt wurde, »in ein einziges Leben passt und dass dieses Leben dennoch ein gewöhnliches und gutes ist«.

➝ Kampnagel, K6, Jarrestr. 20, 20.00 Uhr, € 12,–/9,–





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