Dienstag 08.10.2024


Lesung und Gespräch mit Saša Stanišic und Marica Bodrožic

Die Magie des Innehaltens

Saša Stanišic und Marica Bodrožic, Foto: li. Katja Sämann, re. Antonio Maria Storch
Was wäre, wenn wir zuerst einmal ausprobieren könnten, ob uns das auch passt, was die Zukunft bringt? In diesen Proberaum des Lebens lädt Saša Stanišic mit seinem meisterhaft komponierten neuen Buch »Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne« (Luchterhand). Die Überwindung von scheinbar fest verankerten Wirklichkeitskonstruktionen ist auch ein zentrales Motiv in der Literatur von Marica Bodrožic. In ihrem neuen Roman »Herzflorett« erzählt sie vom beschwerlichen Weg in die Freiheit und von der großen Magie des Innehaltens. In der Freien Akademie der Künste treffen sich Saša Stanišic und Marica Bodrožic zum Gespräch über ihr Schreiben, zum »Grübeln an den Kreuzwegen unserer Biografie« (Stanišic) – und für eine Sternstunde der deutschen Gegenwartsliteratur. Moderation: Jan Bürger

Zu Beginn geht es mit Freunden des Schülers Saša Staniši? kurz vor den Sommerferien hoch hinaus, nämlich in die Weinberge über dem Neckartal in Heidelberg. Die Jungs kommen alle aus prekären Verhältnissen, man ahnt schon die vorgezeichneten Lebensläufe, aber dann wirft einer von ihnen ein Was-wäre-wenn-Szenario auf, das ausgiebig diskutiert wird, bevor sie sich von den Reiseplänen für den Sommer erzählen. Was wäre, wenn wir uns im schicksalhaften Moment einer möglichen Zukunft umschauen könnten, bevor wir entscheiden, ob wir sie für uns »einloggen« wollen? Damit ist die Ausgangssituation aufgeworfen.

In der folgenden »Traumnovelle« drückt der »Fallensteller« Saša Stanišic in Wien für die Putzfrau Dilek dann die Pausentaste und die Zeit bleibt stehen oder ist es in Wirklichkeit Dileks Herz? Wichtig ist hier eigentlich nur, dass Dilek endlich die Freiheit findet, ihrer unverschämten Dienstherrin, die sich nicht wehren kann, einen »schwungvollen Schnurrbart« zu malen. Später zeigt sich dann, dass hier fast alles mit allem zusammenhängt, also hat auch Dilek noch einen Auftritt, aber davon ist vielleicht sogar der Autor selbst überrascht. 2023 wird er auf Helgoland im »Inselkrug« in einer Binnenerzählung seiner eigenen Geschichte mit einer früheren Version von sich und mit dem Vorwurf eines dramatischen Diebstahls konfrontiert.
War er tatsächlich nach dem Ausflug mit seinen Freunden in die Weinberge im Urlaub auf Helgoland? Er erinnert sich an nichts. Später erklärt der Schriftsteller Saša Stanišic dann vor einer Lesung in Heidelberg in der Gegenwart auf einem Hochsitz im Wald die Zusammenhänge, Heinrich Heine spielt dabei eine Rolle und eine Vogelfamilie und ein Stapel mit Büchern. In dieser idyllischen Waldeinsamkeit hat er viele Jahre zuvor in den Sommerferien gelernt, dass wer Geschichten erzählt, Erinnerung konstruiert – und sich damit im Möglichkeitsraum der Literatur auch neu erfinden kann.

Auf dem Buch steht keine Gattungsbezeichnung, ob Roman oder Erzählband, man kann es so oder so lesen, also ganz wie man möchte, aber es empfiehlt sich doch, eine kleine Regieanweisung zu beachten, die der Autor vorangestellt hat: »Bitte der Reihe nach lesen.« Wer sich daran hält, wird durch Querbezüge in den Geschichten belohnt, die sich gegen Ende, wenn man das will, sogar zu einem experimentellen Science-Fiction-Roman ganz ohne Raumschiffe und Cyberwar zusammenfügen lassen. Vorangetrieben wird die Handlung jedoch nicht nur von dem höchst subtilen Spiel mit Realität, Täuschung und Illusion, sondern von einer grandiosen sprachlichen Mikroökonomie. Das ist eine Kunst, die auch Marica Bodrožic glänzend beherrscht.

Die 1973 in Svib/Dalmatien geborene Schriftstellerin ist 1983 nach Deutschland gekommen, Deutsch wurde, das verbindet sie mit Stanišic, zu ihrer zweiten Mutter- und Literatursprache, in der sie inzwischen über ein Dutzend Bücher geschrieben hat: Romane, Erzählungen, Gedichtbände und Essays, die vielfach ausgezeichnet wurden. Sie gilt als eine der interessantesten Schriftstellerinnen der Gegenwart, ihre Texte sind im Kern immer hochpoetisch, auch wenn es sich wie bei »Herzflorett« um einen Roman handelt. Erzählt wird die Geschichte eines Mädchens, das in sehr einfachen Verhältnissen in einem Dorf in Dalmatien aufwächst. Ihre Eltern leben in Hessen, die Mutter arbeitet als Putzfrau, der Vater auf dem Bau, ihre drei Kinder lassen sie zurück in Dalmatien und schicken Geld für den Unterhalt, bis »Pepsi«, die Neunjährige, sich bitter darüber beschwert. In der hessischen Provinz beginnt daraufhin ein neues Leben für das ungewöhnliche Mädchen. Weit entfernt von dem »Grasposten« im Süden muss sie ihren »grünen Kompass« neu justieren und einen Weg finden, die »festgezurrte Wirklichkeit« ihrer Eltern zu überwinden. Doch wie soll das gehen, wenn alles vorgezeichnet ist, der Vater ein Säufer, die Mutter engstirnig, die Rolle der Frauen vorgegeben, die Leben der Kriegsflüchtlinge aus dem Süden, die bald bei ihnen unterkommen, beschädigt.

Es ist genau dieser vorgezeichnete biografische Horizont, für den Saša Stanišic in seinem Buch neue Ansichten konstruiert, die dem Erwartbaren trotzen. Bei Marica Bodrožic wird dieser Vorgang als ein »Nach-innen-Gehen« beschrieben, ein »Augenblinzeln«, in dem sie »alles Mögliche innerlich erfindet«, ein »Lichterkarussell« und die »Kirschblütenstille« und die »Sprache der Vögel« und »Herzmandel«. Die Poesie wird bei ihr zum Versprechen eines Neubeginns, die Weltflucht in das Gedankenreich von Geschichten und Gedichten zum Weg, um die Welt und in ihr eine andere Zukunft zu gewinnen.

Freie Akademie der Künste, Klosterwall 23, 19.00 Uhr, € 10,–/7,–