Heute, 02.12.2024
Lesung mit Olga Grjasnowa
»Juni, Juli, August«
Olga Grjasnowa, Foto: Benner
Die Auftaktszene von Olga Grjasnowas neuem Roman ist der Autorin, wie sie in Interviews erzählte, genauso passiert: Bei einer Freundin liest die fünfjährige Tochter ein Bilderbuch über das Leben von Anne Frank und denkt, es sei »ein Buch von Adolf Hitler«. Wie lässt sich das bei einer Fünfjährigen richtigstellen, was erzählt man einem Kind, das nach seiner Urgroßmutter Rosa heißt, einer Holocaustüberlebenden? Die Erzählerin Lou, eine Kunsthistorikerin, lebt in Berlin in besten Verhältnissen. Ihr Mann Sergej ist ein erfolgreicher Konzertpianist, jüdisch, in der Sowjetunion geboren, vor Jahren nach Deutschland emigriert, so wie sie selbst auch. In ihrem gemeinsamen Leben spielte diese Herkunftsgeschichte und ihr Judentum bisher eine untergeordnete Rolle, doch jetzt fragt sich Lou, ob Rosa nicht »irgendeine Identität« bräuchte, die sie ihr als Eltern mit auf den Weg geben müssten. Sergej kommentiert ihre Frage mit einem Witz: »Juden haben keine Wurzeln, Juden haben Beine«.
Damit ist der Krisenmodus eröffnet, der den Familienalltag nach und nach immer stärker erfasst und der bald vom Narrativ einer möglichen Scheidung begleitet wird, obwohl die Eheleute das ins Stocken geratene Gespräch zwischen ihnen selbst kaum wahrhaben wollen. Während Sergej zu einem Konzert nach Salzburg reist, fliegt Lou mit Rosa und ihrer Mutter zu einer Familienfeier nach Gran Canaria. Dort kommt in einem Hotel direkt am Strand der ganze ex-sowjetische Clan aus Israel für einen All-Inclusive-Urlaub zusammen, um den 90. Geburtstag ihrer Großtante Maya zu feiern. Lou ist plötzlich nicht nur damit konfrontiert, wie wenig sich die Familie zu sagen hat, sondern auch mit den sehr verschiedenen Darstellungen davon, wie ihre Großmutter Rosa und Maya den Krieg und die Shoa überlebten. Am Ende reist sie auf der Suche nach Aufklärung über den »Schöpfungsmythos« ihrer Familie und auf der Flucht vor der inneren Leere, die sie umtreibt, nach Israel. Das Puzzle ihrer Herkunft kann sie dort tatsächlich neu für sich zusammensetzen, offen bleibt, ob das auch der Stoff sein kann, der ihr fragiles Leben in Berlin ausbalanciert.
Ein Ereignis ist dieser Roman vor allem, weil es Olga Grjasnowa so meisterhaft gelingt, scheinbar beiläufige, oft höchst humorvolle Szenen zum Gesamtbild eines jüdischen Lebensgefühls der Gegenwart zusammenzusetzen. Das Erzähltempo ist hoch, nur wer die Auflösung eines Plots sucht, wird hier nicht glücklich, am Ende bleiben alle Fragen in diesem sehr unsentimentalen und doch zarten Buch offen.
Moderation und Gespräch: Sebastian Schirrmeister
Jüdischer Salon im Warburg-Haus, Heilwigstr. 116, 19.30 Uhr, € 12,–/8,–/5,–
Podiumskdiskussion
Frischer Wind in Hamburgs Kultur?
Podiumsdiskussion mit Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda und weiteren Gästen, bei der im Vorfeld der Bürgerschaftswahlen eine Bilanz der Kulturpolitik der letzten Jahre gezogen werden soll. Gab es genug Impulse? Wo waren die Glanzlichter, wo gibt es Schwachstellen? Personell weht frischer Wind durch Hamburgs Kulturszene: Das Ballett der Staatsoper hat einen neuen Chef, auch beim Filmfest gab es einen Wechsel in der Leitung, im Literaturhaus steht der Stabwechsel kurz bevor. Wie bewegen, wie beleben die Newcomer:innen das Kulturleben, wie reagiert die Stadtgesellschaft? Wie gelingt es, junge Leute für Theater, Konzerte, Museen, Galerien, Events zu begeistern?Kulturforum Hamburg auf Kampnagel, Jarrestr. 20, 19.30 Uhr, Eintritt frei
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