Olivia Wenzels Romandebüt »1000 Serpentinen Angst«

Was alles in ein Leben passt

Olivia Wenzel
Olivia Wenzel, Foto: Juliane Werner
Bekannt wurde sie bisher vor allem als Theaterautorin und Musikerin, ihre Stücke wurden an den Münchner Kammerspielen, am Hamburger Thalia Theater und am Deutschen Theater Berlin aufgeführt, sie ist als Performerin mit Kollektiven wie »vorschlag:hammer« aufgetreten und als Musikerin unter dem Namen Otis Foulie. In diesem Frühjahr ist der Debütroman »1000 Serpentinen Angst« (S. Fischer) von Olivia Wenzel erschienen. Es ist eine höchst kunstvolle Romancollage, in der die 1985 in Weimar geborene Autorin von einem ergreifenden Parforceritt ihrer jungen Protagonistin erzählt, einer queeren und schwarzen Frau aus dem Osten.

Wo ihre nächsten Verwandten leben, weiß sie nicht so genau, und eine »richtige Familie, also im biologischen Sinne«, hat sie nicht. Jedenfalls behauptet die junge Ich-Erzählerin das von sich, und in gewisser Weise stimmt es schon auch, obwohl sie dann nach und nach doch eine Familie vorstellt: Mit ihrem Vater hat sie nur sporadischen Kontakt, er lebt in Angola, ihre Mutter hat sie zum letzten Mal vor Jahren bei der Beerdigung ihres Zwillingsbruders gesehen, und ihre Großmutter ist eine alte Frau, mit der offene Gespräche nicht möglich sind. Kein Wunder, dass sie tief verunsichert ist, schließlich in allen möglichen Situationen nur noch Angst empfindet und den alltäglichen Rassismus, unter dem sie in Deutschland seit ihrer Kindheit in einer ostdeutschen Kleinstadt leidet, kaum noch erträgt. Obwohl sie gleichzeitig für sich festellt: »Ich habe mehr Privilegien als je eine Person in meiner Familie hatte.«
Es ist eine »herzergreifende« Geschichte über »Herkunft und Verlust, über Lebensfreude und Einsamkeit, über Liebe und Angst«, heißt es dazu im Klappentext des Romans. Das ist alles richtig und klingt, wenn man diesen Roman gelesen hat, doch irgendwie falsch und unangemessen. Olivia Wenzel lässt ihre Protagonistin in drei Episoden erzählen, von denen zwei fast ausschließlich aus langen fingierten Gesprächen bestehen, die in Berlin, in New York, in Vietnam und Marokko geführt werden.
Die Gespräche changieren meisterhaft zwischen Monolog und Dialog und zoomen durch die vordergründig saloppe mündliche Sprache sehr direkt und unmittelbar an das heran, was geschieht. Wie sehr sie sich in New York »öffentlich gemocht« und in Berlin rassistisch angemacht fühlt, wird dadurch für die Lesenden auf einmal in seiner ganzen emotionalen Dimension nachvollziehbar. Im Mittelteil hat Olivia Wenzel diese Dramatik des Textgefüges dann klug zurückgenommen und erzählt in Bildern vor allem aus der Kindheit der Protagonistin. Am Ende und nach einem weiteren schnellen Textteil über die »fluchtpunkte« der Erzählerin stellt man fast ein wenig verwundert fest, dass alles, was da gesagt wurde, »in ein einziges Leben passt und dass dieses Leben dennoch ein gewöhnliches und gutes ist«.



Olivia Wenzel »1000 Serpentinen Angst«, S. Fischer, € 21,–.


17.05.2020 | Jürgen Abel