Montag 17.06.2024


Lesung mit Miranda July

Mitten ins Herz

Miranda July
Miranda July, Foto: Elizabeth Weinberg
Schon für ihr literarisches Debüt, den Kurzgeschichtenband »Zehn Wahrheiten« (2008) wurde sie mit dem O’Connor-Preis ausgezeichnet, dem höchstdotierten Kurzgeschichtenpreis der Welt. Vor zehn Jahren folgte mit ihrem Romandebüt »Der erste fiese Typ« ein international gefeierter Bestseller. Heute ist die 1974 in Barre (Vermont) geborene Künstlerin, Filmemacherin und Schriftstellerin Miranda July eine der spannendsten und vielseitigsten Akteurinnen der internationalen Kunstszene. Ihr neuer Roman »Auf allen Vieren« (Kiepenheuer & Witsch) ist zeitgleich in den USA und Deutschland erschienen und eines der großen Ereignisse des Bücherjahres. Miranda July stellt ihren Roman im Uebel & Gefährlich vor. Den deutschen Text liest Sigrid Behrens. Moderation: Julia Westlake.

Als eine der wichtigsten Bedingungen für das Schreiben von Frauen nennt Virginia Woolf in ihrem großen Essay »A Room of One’s Own« neben der finanziellen Unabhängigkeit der Frauen von Männern einen eigenen Raum. Gemeint ist damit nicht nur ein privates Zimmer als Rückzugsort, sondern auch ein diskursiver Ort in der Kulturgeschichte, der gezeigt, der erforscht und gestaltet werden kann: »Frauen haben seit Millionen Jahren in geschlossenen Räumen gesessen, so dass inzwischen sogar die Wände durchdrungen sind von ihrer Schaffenskraft.« Virginia Woolf spricht von »Gemächern« und »Höhlen«, die von der »Fackel« der Literatur ausgeleuchtet werden sollen und meint damit auch alltägliche Erfahrungen von Frauen, die ohne die Möglichkeit des Schreibens nicht thematisiert werden können. In Miranda Julys Roman findet sich kein Hinweis auf Virginia Woolf und doch ist »Auf allen Vieren« nicht weniger als eine kühne literarische Übersetzung dieses vor fast 100 Jahren entstandenen Grundlagentextes des Feminismus.



Die Ich-Erzählerin, eine Frau Mitte Vierzig, ist schon in jungen Jahren als Künstlerin bekannt geworden, zwar nicht wirklich berühmt, aber durchaus erfolgreich. Sie ist glücklich mit einem Musikproduzenten in Los Angeles verheiratet, der ihr gut verwahrtes »Lesbischsein« toleriert, ihre gelegentliche Exaltiertheit liebt und sich prima mit ihr um den gemeinsamen Sohn kümmert. Es ist also alles bestens eingerichtet, bis sie unerwartet ein Honorar von 20.000 Dollar erhält. Sie beschließt, sich eine Auszeit zu nehmen und zwei Wochen in einem exklusiven Hotel alleine in New York zu verbringen, um Freunde zu treffen, ins Museum und Theater zu gehen. Und damit die Reise auch wirklich unvergesslich wird, bricht sie mit dem Auto auf, einmal quer durch die Staaten soll es gehen, doch sehr weit kommt sie dann nicht.

Noch in LA lernt sie bei ihrem ersten Zwischenstopp an einer Tankstelle Davey kennen, einen sehr gutaussehenden, aber deutlich jüngeren Mann, den sie fast augenblicklich »in seiner gesamten Länge, von Kopf bis Fuß« begehrt. Sie nimmt sich ein Zimmer in einem billigen Motel und engagiert Daveys Frau, um es luxuriös und nach ihren eigenen Vorstellungen einzurichten. Mit Davey unternimmt sie zuerst nur Spaziergänge, dann besucht er sie auch in dem Motelzimmer. Doch obwohl die Liebe sie beide mitten ins Herz trifft, und sie das Verlangen fast um den Verstand bringt, bleibt ihre Begegnung zumindest dem Anschein nach vorerst ohne Folgen.

Damit endet nur der erste Teil dieses meisterhaft komponierten Romans, der in drei Etappen immer wieder in das luxuriöse Motelzimmer zurückfindet und dabei die Tempiwechsel zwischen reflektierenden und atemberaubend schnellen Passagen brillant ausspielt. Unterwegs lösen sich die Konventionen des wohlsortierten Lebensgefüges der Künstlerin allmählich in einer Melange aus Liebeskummer, Midlife-Crisis, erotischen Ausflügen und den sich immer drängender ankündigenden Wechseljahren auf, bis sie am Ende tatsächlich in New York ankommt – für eine finale Inszenierung in goldenem Licht.

Warnungen verbieten sich für Literatur ja von selbst, aber bei diesem Roman gehört der Hinweis darauf dann doch in den Beipackzettel, dass er besonders freimütig, sehr komisch und tief berührend über die Liebe und das Begehren erzählt, auch wenn sie sich jenseits normierter Vorstellungen zeigen.


Literatur in Hamburg