Mittwoch 07.06.2023


Lesung mit Helga Schubert

Die weiten blauen Fernen

Helga Schubert
Helga Schubert, Foto: Renate von Mangold
Für eine Erzählung aus ihrem Sammelband »Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten« (DTV) wurde Helga Schubert 2020 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet, 40 Jahre nachdem die heute 83-jährige Schriftstellerin schon einmal zum Wettbewerb eingeladen war und ihn dann verpasste, weil sie nicht aus der DDR ausreisen durfte. In diesem Frühjahr ist mit der »Der heutige Tag« (DTV) ein tief berührendes Porträt des Lebens mit ihrem Mann im Mecklenburgischen Neu Meteln erschienen, es ist »Ein Stundenbuch der Liebe«, das die kleinen Momente des Glücks in einem höchst beschwerten Alltag feiert. Im Literaturhaus stellt Helga Schubert ihr Buch vor.

Bekannt wurde Helga Schubert schon 1975 mit dem Erzählband »Lauter Leben«, der in der DDR im Aufbau Verlag erschienen ist, das große Lesepublikum in Westdeutschland erreichte sie Anfang der 1980er Jahre mit dem vielgelobten Band »Das verbotene Zimmer« (Luchterhand). Für die Lakonie und Treffsicherheit ihrer literarischen Miniaturen aus meist nur wenigen Seiten wurde sie auch damals schon gefeiert, euphorisch schwärmte ihre Kollegin Sarah Kirsch: »Profession und Talent haben sie mit Über-Blicken über das Leben der Menschen ausgerüstet.« Auch in der Folge veröffentlichte Helga Schubert noch Erzählbände, Kinderbücher, Theaterstücke und Filmszenarien. In den letzten zwanzig Jahren lebte sie dann zurückgezogen in einem Dorf zwischen Wismar und Schwerin, bis der Trubel um den Bachmann-Preis und der »märchenhafte Erfolg« (Volker Weidermann) ihres Erzählbandes »Vom Aufstehen« sie zurück in die literarische Öffentlichkeit katapultierte. Zum gefeierten Bestseller wurde nun auch neues Buch »Der heutige Tag«, in dem sie von zwei »alten Liebesleuten« erzählt.
»Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant«, sagt ihr Mann zu der Erzählerin und schiebt dann die Frage hinterher, ob es gerade morgens ist oder abends. Der schon seit Jahrzehnten emeritierte Professor für Psychologie ist weit über neunzig Jahre alt, er verliert immer wieder die Orientierung im Hier und Jetzt und ist vollständig von der Hilfe seiner Frau abhängig. Dennoch sind die Eheleute sich auch nach 58 gemeinsamen Jahren innig verbunden. Helga Schubert erzählt ohne jedes Pathos aus dem gemeinsamen Alltag, und es gehört zur großen Kunst dieser Erzählerin, dass das kleine Glück einer singenden Amsel ebenso selbstverständlich in den Kanon des Textes findet wie Windeln, Blasenkatheter, Rollstuhl und Babyfon. Nach und nach entfaltet sich die gemeinsame und die eigene Vergangenheit in den letzten Jahrzehnten, vom ersten Kennenlernen an der Universität über die Jahre in Berlin, die Selbstfindungsprozesse und Neuorientierungen in der Lebensmitte bis zu den tastenden Fragen danach, was passiert, wenn es so nicht mehr weitergeht. Es ist ein Ereignis, wie schonungslos offen Helga Schubert erzählt und wie sich die kleinen Episoden dieses Stundenbuchs zum Bild eines Lebens zusammenfügen, das von einer großen Zuversicht getragen wird und dem Glauben an die »weiten blauen Fernen«, die Franz Schubert in seinem »Nachtgesang« anstimmt, in denen die Liebe »ein süßes Licht« ist.

Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr, € 12,–/8,–, Streaming € 6,–






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