Donnerstag 05.10.2023


Lesung mit Mirko Bonné

Wenn die Tage plötzlich wieder zählen

Mirko Bonné
Mirko Bonné, Foto: Beowulf Sheehan
Der neue Roman »Alle ungezählten Sterne« (Schöffling) von Mirko Bonné ist ein Höhepunkt und ganz besonderes Glanzlicht der deutschen Gegenwartsliteratur in diesem Jahr. In einem grandiosen Mix aus Politthriller, Gesellschafts- und Zeitroman führt der Hamburger Übersetzer, Dichter und Schriftsteller an eine zentrale gesellschaftliche Bruchkante unserer Zeit. An ihr prallen bürgerliche Saturiertheit und Erschöpfung auf die radikale Unbedingtheit und Entrüstung einer Jugend, die keine Zukunft mehr für sich sieht. Hamburg ist ein idealer Ort, um den Großkonflikt auszuleuchten – und Mirko Bonné erweist sich dabei als kongenialer Erzähler.

Als leises Hintergrundrauschen blendet Mirko Bonné ein gesellschaftliches Zeitpanorama ein (G20-Gipfel, Pandemie, Ukrainekrieg), die Hamburger Stadt- und Naturgeschichte der letzten Jahrzehnte dient ihm als großer poetischer Echoraum, der flankiert wird von einer kleinen Sternenkunde, während im Vordergrund zwei vermeintliche Antipoden unserer Zeit für eine folgenreiche Begegnung aufgerufen werden: Der pensionierte Hamburger Brückenkommissar Benno Romik hat gerade erst eine Diagnose erhalten, die bedeutet, dass er nur noch Wochen, vielleicht auch nur noch ein paar Tage leben wird. Das ist zu wenig, um sich mit seiner Tochter auszusöhnen, die ihm den Kontakt verweigert, seinen Enkelsohn kennenzulernen oder sich auf eine Liebesgeschichte mit seiner ehemaligen Assistentin Cherin Fischer einzulassen. Immerhin erfüllt er sich den lange gehegten Traum, auf dem Balkon seiner großen Wohnung im Hoheluftviertel unterm Sternenhimmel zu übernachten.

In seinem »Bericht vom Ende eines kommissarischen Lebens« merkt er dazu an, dass ihn das Nachdenken über die Sterne eher von Empfindungen ablenkt, die ihm nahegehen könnten, als welche hervorzurufen. Der Ingenieur ist ein Mann der »sachverständigen Kalkulation«, und ein Pragmatiker mit wenig Sinn für höhere Autoritäten, wie sich schnell zeigt. Ausgerechnet in dieser Nacht auf dem Balkon geht vor dem Haus ein Jeep in Flammen auf, abgefackelt von einer Gruppe von Aktivistinnen, die sich »Zertrümmerfrauen« nennt. Als sich ein junges Mädchen, eine der Aktivistinnen und offensichtlich verletzt, in seinem Kellereingang vor der Polizei versteckt, bringt er sie kurzentschlossen in seine Wohnung. Dort bezieht Hollie Magenta, so nennt sie sich, mit einem verstauchten Fuß, den sie vorerst nicht belasten soll, das ehemalige Kinderzimmer. Für »Benno Goodman, Dreihundert, das Fossil, Homo erectus, Homo Romik, Old Schlurf«, diesen »alten Mann«, der nichts mehr zu verlieren hat, wird dieser Besuch zu einem Lebendigkeitsschock.
»Whatever. Es liegt an euch. Wir sprengen zur Not auch den Fernsehturm. Hauptsache Randale. Hauptsache, es kracht und trifft euch und ihr wacht auf.« Die Positionen von Hollie Magenta sind so radikal, dass dem krebskranken Brückenkommissar ziemlich schummrig wird, doch er bleibt im Gespräch, während der Countdown seines Lebens läuft. Drei Wochen später sitzt dann die gesamte Kadergruppe im Kinderzimmer, um einen neuen Anschlag zu planen, und in der Folge überstürzen sich die Ereignisse. Benno Romik riskiert Kopf und Kragen, wird beklaut und auch von Hollie belogen. Dennoch findet der Brückenbauer am Ende ein tragbares Konstrukt, das seine eigene und die Welt von Hollie Magenta verbindet – und ihm vielleicht sogar noch etwas mehr Lebenszeit beschert als alle Prognosen versprechen.

Es ist keine gemeinsame Wahrheit oder auch nur tiefere Erkenntnis, die zur Brücke zwischen der jungen Aktivistin und »Old Bro« wird, es ist allein das fortgesetzte Gespräch. Wenn Hollie irgendwann den Spruch raushaut, »dass man sich eh nicht mitteilen kann, keinem anderen und nicht mal sich selbst«, dann hält dieser Roman und sein Brückenbauer mit der These dagegen, dass die Welt nicht durch sich selbst spricht, sondern nur durch dieses »bewegliche Heer von Metaphern« (Nietzsche), das wir für sie aufwenden. Und darin findet eine Hollie Magenta, dank Mirko Bonné, der das von Anglizismen wimmelnde globalisierte Neudeutsch so wunderbar auf den Punkt bringt, immer genau die richtige Ansage: »Bah! Bah, bah, bah, bah, bah!«, machte sie. »Enough. Keinen Bock mehr auf irgendein Wort.«

Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr, € 12,–/8,–, Streaming € 6, –