6 07.09.2019


Lange Nacht der Literatur

Alles ist da und alles ist anders

Nora Bossong auf dem Blauen Sofa der Leipziger Buchmesse 2017
Nora Bossong, Foto: Heike Huslage-Koch

»Miroloi«, das ist die Bezeichnung für ein in der Tradition der griechisch-orthodoxen Kirche gedichtetes und gesungenes Totenlied über das Schicksal eines Verstorbenen. In 128 Strophen erzählt die Hamburger Schriftstellerin, Dramatikerin und Schauspielerin Karen Köhler in ihrem neuen Roman so ein »Miroloi« (Hanser Verlag) und katapultiert uns mit ihm mitten hinein in das patriarchale Herrschaftssystem einer auf den ersten Blick sehr fernen, sehr fremden und archaischen Welt. Für die Erzählerin in »Schutzzone« (Suhrkamp Verlag), den neuen Roman von Nora Bossong, beruht der hauchdünne Firnis der Zivilisation allzu oft nur auf Fortschritten, die »wir zu sehen meinen«, weil wir sie sehen wollen oder vielleicht auch müssen, wenn wir in Konflikten und Krisensituationen weiter verantwortlich handeln wollen. Es sind zwei Romane, die für zentrale gesellschaftliche Probleme der Gegenwart eine literarische Stimme finden, durch die alles da und gleichzeitig alles anders ist. Zur Langen Nacht der Literatur, mit der über 60 Autorinnen und Autoren mit Lesungen, Performances und Diskussionsveranstaltungen die herbstliche (Vor-)Lesezeit in Hamburg eröffnen, stellen sie ihre Romane vor.

Man nennt sie »Dievondrüben«, »Erntevernichterin« oder gleich »Eselstochter«, und wann immer das Dorf von einem Unglück heimgesucht wird, ist sie es, der man die Schuld daran gibt. Aufgewachsen ist sie beim »Bethaus-Vater«, der sie in einem Bananenkarton gefunden und gegen alle Widerstände des Dorfes bei sich behalten, ihr aber keinen Namen gegeben hat, weil das die Gesetze verbieten. »Meinmädchen« nennt er auch noch die Sechzehnjährige, die einen richtigen Namen fordert, Lesen und Schreiben lernen möchte, obwohl es Frauen nicht erlaubt ist. Nach und nach entsteht durch die kurzen »Strophen«, in denen dieses Mädchen in »Miroloi« vom Leben in dem Dorf auf einer entlegenen griechischen Insel erzählt, das Bild einer abgeschirmten, patriarchalen Gemeinschaft, die völlig aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Die Religion dient mit ihren Regeln und Vorschriften vor allem der Unterdrückung der Frauen, denen weder Bildung noch Mitbestimmungsrechte zugestanden werden. Gewalt und sexueller Missbrauch der Frauen sind alltäglich und werden stillschweigend geduldet. Als der »Bethaus-Vater« sich dann doch dazu überreden lässt, sie zu unterrichten, ist es für sein Mädchen nur der erste Akt der Befreiung aus einer Welt, in der eine wie sie »nicht vorgesehen« ist.
Es sei ihr mit ihrem Roman wichtig gewesen, auf diese Welt und ihre Missstände zu reagieren, hat Karen Köhler in einem Podcast zum Erscheinen gesagt, und das ist ihr mit »Miroloi« ganz wunderbar gelungen. Der Roman spielt zwar auf einer fernen Insel und in einer für uns fernen Zeit, doch die Strukturen, denen ihre Heldin ausgesetzt ist, sind für viele Frauen noch immer alltäglich, Feminismus hat für sie eine existenzielle Bedeutung. Bis heute sind die großen politischen Fragen oft auch verknüpft mit Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, es geht um Bildung, Gesundheit und um den Schutz vor sexuellen Übergriffen. In »Schutzzone«, dem neuen Roman von Nora Bossong, findet man dafür konkrete Beispiele aus dem Alltag von Frauen. Gleichzeitig sind diese Fragen bei ihr eingefriedet in den Kanon der großen Begriffe, die auf der weltpolitischen Bühne in Tagesordnungen übersetzt werden und in Berichte einfließen: Es geht um Friedensmaßnahmen, Krisenregionen, Gerechtigkeit, es geht um Verantwortung und Vertrauen, es geht um Zeugenschaft und Wahrheit. Mira, die Erzählerin des Romans arbeitet in Genf für die Vereinten Nationen. Als sie bei einer Sitzung im Menschenrechtsrat Milan wiederbegegnet, in dessen Familie sie für die Trennungsphase ihrer Eltern als Kind für einige Monate untergebracht war, ist sie plötzlich neben den politischen Konfliktfeldern auch noch mit den privaten Zerwürfnissen ihres Lebens konfrontiert. Und mit einer stürmischen Liebe, die alles in Frage stellt.
In Rückblicken erinnert sich Mira an ihre Zeit in Milans Familie und berufliche Stationen in New York oder Bujumbura in Burundi. Ob sie »noch daran glaubt, an diese schwerfällige Weltgemeinschaft«, weiß Mira irgendwann nicht mehr so genau. Aber woran soll sie sonst glauben? Eine einfache Wahrheit findet sie weder im Politischen noch im Privaten, am Ende geht es vor allem darum, wie man sich die Hoffnung auf Versöhnung bewahrt. »Wir erzählen, aber warum eigentlich?«, fragt ihre Freundin Sarah sie eines Tages in Burundi. »Weil wir einander vertrauen oder weil wir einander nicht vertrauen?« Mira antwortet darauf: »Vielleicht einfach nur, weil wir zu uns kommen.«

Karen Köhler, Buchhandlung Lüders, 18.00 Uhr, € 8,–
Nora Bossong, Buchhandlung Heymann in Eimsbüttel, 20.30 Uhr, € 10,–



Lange Nacht der Literatur

Alle Veranstaltungen im Überblick


www.langenachtderliteratur.de

Publizistische Vielfalt entdecken, Indiecon 2019 – Independent
Publishing Festival, Stockmeyerstraße 43, Hafencity, 12.00 bis 18.00 Uhr, Eintritt frei


Ute Krause, »Die Muskeltiere – Pomme de Terre und die vierzig Räuber«
Bücherhalle Elbvororte, Sülldorfer Kirchenweg 1b, 15.00 Uhr, € 4,–


Till Lenecke, »Auf Kaperfahrt mit Störtebeker«
Bücherhalle Harburg, Eddelbüttelstr. 47a, 16.00 Uhr, € 4,–  


Nicole Wellbrock und Nina Helbig, »Kamishibai«
KiBuLa, Schenkendorfstr. 20, 16.00 Uhr, € 4,–


»Mit Self-Publishing zum eigenen Buch – ein Einstieg mit Lesungen«
BOD – Books on Demand in der Pony-Bar, Allende-Platz 1, 16.30 Uhr, Eintritt frei


Anne Barns, »Honigduft und Meeresbrise«
Bücherwurm, Dingstätte 24, Pinneberg, 16.30 Uhr, € 4,–


»Kampfzeichnen am Grindel Vol. 3«
acht Comiczeichner treten gegeneinander an, Comics Total! Grindelallee 92, 16.30 Uhr, Eintritt: Spende


Marie Alice Schultz, »Mikadowälder«
abc Buchhaus Hoheluft, Hoheluftchaussee 60, 17.00 Uhr, € 8,– inkl. Getränke


Eva Almstädt, »Ostseeangst«, Bücherhalle Neugraben, Neugrabener Markt 7, 17.00 Uhr, € 8,–/5,–  


Marion Brasch, »Lieber woanders«
Buchhandlung Christiansen, Bahrenfelder Str. 29, 18.00 Uhr, € 10,–/8,–  


Saša Stanišić, »Herkunft«
Büchereck Niendorf-Nord im Gymnasium Ohmoor (Aula), Sachsenweg 74-76, 18.00 Uhr, € 10,–


Matthias Naß, »Der Elblotse. Helmut Schmidts Hamburg«
Bücher & Co., Winterhuder Marktplatz 7, 18.00 Uhr, € 9,– 


Stefanie Gregg, »Der Duft nach Weiß«
Buchkontor Hamburg, Bogenstr. 3, 18.00 Uhr, Eintritt frei


Katharina Adler, »Ida«
Denk(t)räume – Hamburger Frauen*Bibliothek, Grindelallee 43 18.00 Uhr, € 10,–/7,– 


Martin Zimmermann, »Die seltsamsten Orte der Antike: Gespensterhäuser
Hängende Gärten und die Enden der Welt«, Dr. Götze Land & Karte, Alstertor 14-18, 18.00 Uhr, € 10,–


Kai Pannen, »Zombert«
Buchhandlung Frau Büchert, Hartungstr. 22, 18.00 Uhr, € 5,–


Karen Köhler, »Miroloi«
Buchhandlung & Antiquariat Lüders, Heußweg 33, 18.00 Uhr, € 8,–


Christa Ludwig, »Ein Bündel Wegerich«
Rudolf Steiner Buchhandlung für Anthroposophie, Rothenbaumchaussee 103, 18.00 Uhr, € 8,–


Sophie Bonnet, »Provenzalischer Rosenkrieg«
stories! im Falkenriedquartier, Straßenbahnring, 18.30 Uhr, € 8,–, anmeldungen@stories-hamburg.de


Charlotte Drews-Bernstein, »Hochseil. Eine Radio-Hommage an Peter Rühmkorf«
Altonaer Museum, Museumsstraße 23, , 19.00 Uhr, € 10,–


Catharina Junk, »Bis zum Himmel und zurück«
Buchhandlung am Sand, Hölertwiete 5, 19.00 Uhr, € 7,–


Klaus Modick, »Ins Blaue«
Buchhandlung Klauder, Duvenstedter Damm 41, 19.00 Uhr, € 10,–


Ulla Lachauer, »Von Bienen und Menschen«
Buchhandlung Seitenweise in Jacques Weindepot, Sievekingsallee 68, 19.00 Uhr, € 10,–


Jochen Schimmang, »Adorno wohnt hier nicht mehr«
Buchladen Osterstraße, Osterstr. 171, 19.00 Uhr, € 7,–


Jan Brandt, »Ein Haus auf dem Land / Eine Wohnung in der Stadt«
Sautter + Lackmann, Admiralitätstr. 71-72, 19.00 Uhr,   € 10,–/6,–


Simone Buchholz, »Mexikoring«
Bücherhalle Wandsbek, Wandsbeker Allee 64, 19.00 Uhr,   € 8,–/5,–


Meike Winnemuth, »Bin im Garten«
Buchhandlung Hoffmann, Fuhlsbüttler Str. 106, 19.00 Uhr,   € 10,–


Katharina Greve, »Prinzessin Petronia«
Sternwarte Bergedorf, Café Raum & Zeit, August-Bebel-Str. 196, 19.00 Uhr, Eintritt frei


Mareike Fallwickl, »Das Licht ist hier viel heller«
cohen + dobernigg Buchhandel, Sternstr. 4, 19.00 Uhr, € 10,–


Carola Christiansen, »Die rätselhafte Frau«
Polizeimuseum Hamburg, Carl-Cohn-Str. 39, 18.00 Uhr, € 10,– inkl. Museumsbesuch ab 19.00 Uhr


M. Fsehaye, A. Schnittger und G. Boateng, »Wie ein Tropfen im Ozean. Oder: Warum es auf jede*n von uns ankommt«; Special Guest: Bettina Schäfer, »Mensch Genscher«
smm Leichte Sprache Verlag in der Kulturküche Alsterdorf, Alsterdorfer Markt 18, 19.00 Uhr, € 7,–/1,– inkl. Museumsbesuch ab 19.00 Uhr


Ulrich Woelk, »Der Sommer meiner Mutter«
Bücherhalle Barmbek, Poppenhusenstr. 12, 19.00 Uhr, € 8,–/5,–


Poetry Slam
Zentralbibliothek der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen, Hühnerposten 1, 19.00 Uhr, € 8,–/5,–


Schuldt, »Hamburgische Schule des Lebens und der Arbeit«
Wede Fachbbuchhandlung, Koreastr. 1, , 19.00 Uhr, € 10,–


»Ziegel«-Quartett mit Friederike Gräff, Malte Schiller, Marie-Alice Schultz und Juliane Pickel
Behörde für Kultur und Medien im Aalhaus, Eggerstedtstr. 39, 19.30 Uhr, Eintritt frei


Mona Harry, »Hamburg und andere Gelegenheiten«
Buchhandlung Kortes, Elbchaussee 577, 19.30 Uhr, € 5,–


Andreas Heineke, »Versuchung à la Provence«
Bücherstube Fuhlsbüttel, Hummelsbütteler Landstraße 8, 19.30 Uhr, € 14,– inkl. Getränke


Gunnar Staalesen, »Totenmörder«
Mein skandinavisches Krimi-Buch-Café, Lehmweg 35, 19.30 Uhr, € 8,–


Ebba Drolshagen und Mona Høvring, »Norwegen erle/b/s/en«
Lesesaal Buchhandlung & Café, Stadthausbrücke 6, 20.00 Uhr, € 10,–


Tomer Gardi, »Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück«
Buchhandlung Lüdemann, 19.30 Uhr, € 8,–  


Friedrich Christian Delius, »Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich«
Literaturhaus, Schwanenwik 38, 19.30 Uhr, € 12,–/8,–  


Doris Knecht, »weg«, Buchhandlung Boysen + Mauke, Große Johannisstr. 19, 19.30 Uhr, € 12,–/8,–, Anmeldungen: a.wenzel@schweitzer-online.de


Martin Glaz Serup, Nathalie Keigel, Bernd Lüttgerding und Ayna Steigerwald
»AHAB« in der Seemannsmission, Große Elbstr. 132, 20.00 Uhr, € 6,–


Regina Scheer, »Gott wohnt im Wedding«
Buchhandlung Ida von Behr Ayse Altin GmbH, Im Alten Dorfe 31, 20.00 Uhr, € 10,–


Peter Franke, »Nichts als die Wahrheit«
»Schwarze Nächte« im bey´s, Ottenser Hauptstr. 64, 20.00 Uhr, € 10,–


Anne König und Paula Bulling, »Bruchlinien, Drei Episoden zum NSU«
Strips & Stories im Kölibri, Hein-Köllisch-Platz 12, 20.00 Uhr, Eintritt: Spende


Max Bentow, »Rotkäppchens Traum«
Thalia Buchhaus, Spitaler Str. 8, 20.15 Uhr, € 7,–  


Kersten Flenter, »Wie wir uns besiegten«, Mathilde Bar, Kleine Rainstr. 11, 20.15 Uhr, € 7,– 


Nora Bossong, »Schutzzone«
Buchhandlung Heymann in Eimsbüttel, Osterstr. 134, 20.30 Uhr, € 10,–


Diary Slam zur 6. Langen Nacht der Literatur
Goldbekhaus, Moorfuhrtweg 9, 20.30 Uhr, € 9,–


Maiken Nielsen, »Space Girls«
Sternwarte Bergedorf, Café Raum & Zeit, August-Bebel-Str. 196, 21.30 Uhr, Eintritt frei


Durch die Nacht mit Duke & Dukies
Abschlussfeier im Literaturhaus, Schwanenwik 38, ab 22.00 Uhr, Eintritt ,–





Literatur in Hamburg